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Montag, 23.3.20 // Corona Diaries # 1

Liebe Lotte,

die Welt ist wie in Schockstarre. Das System hält den Atem an.

Jeden Tag, jede Stunde neue Zahlen. Von Infizierten, „Positiven“, und Toten. Von Ladenschließungen, Kontaktverboten und Ausgangssperren. Von Bewegungsdaten und Apps, die dein Ansteckungsrisiko bewerten. Netflix hat die Qualität seines Streams runtergefahren. Weil das Internet ausrastet. Twitter explodiert.

Die Lokalblätter stampfen ihre Berichterstattung ein. Der Nachrichtenpodcast ist in DIY-Qualität, weil die Redakteurin Zuhause sitzt. Auf den Onlinekanälen neue Formate, alle zum selben Thema. Rechtskonservative Regierungen haben ihre Grenzen als Erste dicht gemacht. Dann alle anderen. Demokratien setzen das Asylrecht aus. Die Versammlungsfreiheit. Den Datenschutz.

Nachbarschaften organisieren sich im Netz, die Zahl der Jogger:innen ist mindestens so exponentiell gestiegen wie die Kurve, die es abzuflachen gilt. Die Parks sind voll. Die Parks sind ruhig. Die Vögel triumphieren. Ein Paar umarmt sich schweigend, die Sonne strahlt. Der Wind beißt. Blauer Himmel.

Am achten Tag der Selbstquarantäne bin ich so unsicher mit der Situation wie am ersten. Die Freude darüber, nicht allein zu wohnen kippt in Sekunden in Gereiztheit bei einem falschen Wort meines Mitbewohners. Die Sorge, das Haus nicht mehr ohne triftigen Grund verlassen zu dürfen wechselt sich mit der Hoffnung auf ein bedingungsloses Grundeinkommen ab. Die Sehnsucht nach körperlicher Nähe mit der Zuversicht, dass der Kapitalismus sich gerade selbst widerlegt. Angst, dass ich Menschen verlieren könnte mit dem Ärger über die Aussicht auf einen Sommer in Isolation.

Noch scheint die Welt in Schockstarre. Auch wenn Tausende auf den Beinen sind, rund um die Uhr. Und alle Gewohnheiten fallen lassen. Um Existenzen zu sichern. Noch scheint niemand die Konsequenzen zu kennen. Aber ich denke es ist Zeit, daran zu arbeiten.

Zu zeigen, dass die systemrelevanten Jobs andere sind als die, die vom System profitieren. Dass freie Märkte nicht von selbst zu gerechtem Wohlstand führen. Dass es möglich ist, das Klima zu schonen. Dass das Gesundheitssystem nicht auf Profit ausgelegt sein darf. Dass die Unterbringung Wohnungsloser nicht ausreicht. Dass das Maß an Arbeit den Bedürfnissen der Menschen keinen Raum lässt. Dass Kultur gefördert und subventioniert werden muss. Dass sexualisierte Gewalt im privaten Raum ausufernd ist und kein Schutz für die Opfer geboten wird. Und, und, und.

Noch ist die Welt in Schockstarre. Was passiert in der nächsten Woche? Was passiert, wenn sich die Menschen an den Zustand gewöhnen?

Lass uns mitbestimmen, was wir daraus machen.

Deine Mara

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