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09.02.2020 // Kapitalismus killt die Fantasie

Liebe Mara,

in deinem letzten Brief hast du darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn die romantische Zweierbeziehung nicht mehr das non plus ultra zwischenmenschlicher Beziehungen darstellen würde, wenn wir Beziehungspersonen grundsätzlich als Verbündete denken würden, unabhängig davon ob es sich dabei um Freund*innen oder Partner*innen handelt.

Ich teile deinen Wunsch danach, Beziehungen anders zu denken und zu leben. Ich will mein Leben nicht mit einer Person teilen, sondern mit vielen. Ich wünsche mir kommunitäre, queere Familienkonstellationen, in denen Verantwortung nicht an Biologie oder staatliche Legitimation geknüpft ist. Ich träume von einem Haus mit vielen Menschen, die miteinander leben wollen, unabhängig davon ob sie romantische Beziehungen führen oder nicht. Ich möchte gerne Bezugsperson für Kinder sein, ohne sie selber gebären zu müssen.

Und dann sind da diese anderen Wünsche. Fantasien, wie du sie auch beschrieben hast. Für immer mit der Beziehungsperson zusammenbleiben, gemeinsam eine 3-Zimmer-Altbauwohnung beziehen, sich das gute Leben in einer falschen Welt einrichten. Sich der Illusion von Sicherheit und Geborgenheit hingeben.

Die Gegensätzlichkeit dieser beiden Szenarien verwirrt mich immer wieder. Wie kann ich mir zwei so unterschiedliche Dinge gleichermaßen wünschen? Ist das eine Bedürfnis „echt“ und das andere nicht? Ich bin mittlerweile dazu übergegangen, das „happily ever after“-Szenario als Fantasie zu betrachten. Und so wie nicht hinter jeder sexuellen Fantasie der Wunsch steht, das Erträumte in die Realität umzusetzen, muss es auch in diesem Fall nicht bedeuten, dass ich eigentlich unbedingt als klassische Kernfamilie leben will. Interessant finde ich eher die Frage danach, welche Bedürfnisse dahinter stehen – und welche Bilder wir überhaupt fantasieren können.

Ich merke immer wieder, dass ich Zeit und Raum brauche, um Utopien überhaupt denken zu können. Zeit und Raum, den man sich in einem von Lohnarbeit, Ausbildung, Studium und Reproarbeit bestimmten Alltag aktiv erkämpfen muss. Die Sorge um die nächste Miete mag die Frage nach kommunitären Lebenskonzepten als nichtige Spinnerei dastehen lassen. Eine 40-Stunden-Woche lässt kaum Zeit, mehr als eine Beziehung vertieft zu führen. Wie soll da Platz für ganze Netze von Verbündeten sein – im Kopf genauso wie im Kalender?

Nun bewege ich mich in einem sehr privilegierten Umfeld. Der Großteil meiner Freund*innen ist weiß und hat einen Uniabschluss, arbeiten bedeutet für sie mehr als nur überleben. Trotzdem beobachte ich, wie sich seit dem Übergang vom Studium in die Berufswelt Beziehungen verändern. Die Freundin in der Straße nebenan, die ich früher so gut wie jeden Tag getroffen habe, sehe ich jetzt mit Glück alle zwei Wochen. Wenn wir es am Wochenende mal mit ein paar Leuten auf eine Party schaffen, hängen sich nach dem zweiten Bier alle in den Armen und sagen: „Wir müssen das wieder viel öfter machen!“ – wissend, dass es Wochen dauern wird, bis in dieser Konstellation wieder alle gleichzeitig Zeit haben.

Wie wir arbeiten bestimmt, wie wir Freundschaften und Beziehungen führen können. Nicht nur historisch-konzeptuell, so wie Eva Illouz das gezeigt hat. Sondern auch ganz praktisch. Kapitalistische Arbeitsverhältnisse können einem die Energie zum fantasieren nehmen. Sie beeinflussen, wie wir lieben und träumen können. Deswegen wird es nicht reichen, sich auf der Suche nach „mehr“ auf alternative Beziehungskonzepte zu beschränken. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir Bündnisse nicht nur auf freundschaftlich-romantischer Ebene knüpfen können, sondern auch auf ökonomischer. Für mehr Freiheit im Kalender genauso wie im Kopf.

Liebst,

Lotte

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