Liebe Mara,
du hattest ja letztens die Idee, dass wir uns auch mal über Bücher schreiben könnten, die wir so lesen. Das find ich gut und ich fang auch gleich mal damit an! Tädää, hier kommt unsere erste Buchbesprechung.
Liebst,
Lotte
Sie kommt über Nacht. Ist auf einmal da, kühl, glatt, unsichtbar. Die Wand trennt das Tal mit der Jagdhütte vom Rest der Welt, sie durchzieht Flüsse, Wälder und Berghänge und sie ist unzerstörbar. Wer hat sie gebaut? Wo kommt sie her? Für die Protagonistin aus Marlen Haushofers Roman „Die Wand“, deren Namen wir nicht erfahren, spielt das letztendlich keine Rolle. Sie muss mit der Wand, innerhalb der Wand, leben lernen. Denn schnell wird klar, dass sie die einzige Überlebende eines schrecklichen Unglücks zu sein scheint, niemand wird kommen, um sie zu retten. Gemeinsam mit dem Jagdhund Luchs, der Kuh Bella und einer ebenfalls namenlosen Katze richtet sich die Erzählerin in dem Tal ein. Sie lernt melken, jagen und Heu machen, studiert alte Bauernkalender und kämpft ums Überleben. Langsam merkt sie, wozu sie so in der Lage ist, was ihre Hände alles können. Dabei mangelt es an vielem – Essen, Streichhölzern, handwerklichem und landwirtschaftlichem Wissen. Mit all dem kann die Frau umgehen lernen. Was ihr aber auf keinen Fall verloren gehen darf, ist das Gefühl, gebraucht zu werden.
Wer sind wir noch ohne den Kontakt zu anderen Menschen? Was macht uns aus, wenn da niemand ist, der uns hört, sieht, antwortet? Ihr ganzes Leben lang war die Frau für andere da. In der Einsamkeit des Lebens mit der Wand ist sie nun mit ihrer eigenen Existenz konfrontiert. Und obwohl ihr Körper hart arbeitet, weh tut, krank wird, scheint die Frau mit der Zeit doch seltsam körperlos zu werden. Nach einer Weile betrachtet sie ihr Gesicht im Spiegel: „Es sah ganz fremd aus, mager, mit leichten Höhlungen in den Wangen. Die Lippen waren schmaler geworden, und ich fand dieses fremde Gesicht von einem heimlichen Mangel gezeichnet. Da kein Mensch mehr lebte, der dieses Gesicht hätte lieben können, schien es mir ganz überflüssig.“ Auf der Flucht vor der Erinnerung an geliebte Menschen werden die Tiere, vor allem Luchs, überlebenswichtig für die Frau: „Etwas war in mir eingepflanzt, dass es mir unmöglich machte, Anvertrautes im Stich zu lassen.“, Sie geben ihr einen Grund, weiterzuarbeiten, zu überleben. Die Überbleibsel eines anderen Lebens, einer anderen Welt, gehen dabei nach und nach verloren. Uhren bleiben stehen, alte Zeitungen werden verheizt und das Auto ist schon längst zu einem überwucherten Nistplatz für Vögel geworden. Auch die Grenzen zwischen Mensch und Tier verschwimmen für die Frau mit der Zeit. „Es war fast unmöglich, in der summenden Stille der Wiese unter dem großen Himmel ein einzelnes abgesondertes Ich zu bleiben, ein kleines, blindes, eigensinniges Leben, das sich nicht einfügen wollte in die große Gemeinschaft. Einmal war es mein ganzer Stolz gewesen, ein solches Leben zu sein, aber auf der Alm schien es mir plötzlich sehr armselig und lächerlich, ein aufgeblasenes Nichts.“ Das alte Leben, es verschwindet, aber es ist kein Verlust.
„Die Wand“ von Marlen Haushofer ist für mich eine Geschichte von Zivilisationskritik, Einsamkeit, Emanzipation und einer verweiblichten Existenz für Andere, die ohne philosophische Schwere existenzielle Fragen behandelt. Naturromantik wird die Leser*in darin kaum finden, dafür zahlreiche Beschreibungen der überlebenswichtigen Arbeiten der Protagonistin. Die rätselhafte Existenz der Wand sowie Andeutungen der Erzählerin sorgen dabei beim Lesen für eine mulmige Spannung und die Vorahnung: ein Happy End gibt es nicht.
Haushofer, Marlen (1968): Die Wand. Ullstein Taschenbuch.