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Sonntag, 28.4.19 // Als wäre nichts

Liebe Lotte,

tu so, als wäre nichts. Geh einfach weiter. Du hast nichts gesehen, nichts gehört, nichts Auffälliges gerochen, geschmeckt, gespürt. Nichts außer-Gewöhnliches. Das ist das Dogma des Stadtkindes. Und die Zugezogenen, die Durchreisenden, die Besucherinnen – lernen den Befehl in Sekundenschnelle.

Tu so, als wäre nichts. Vor einiger Zeit habe ich dir von einem Erlebnis berichtet, dass ich in der Uni-Mensa hatte. Von einem weggeworfenen Mittagessen, von der Stumpfheit der Angestellten und der Ignoranz, die ich mir selbst und allen Umstehenden vorwerfen wollte. Tu so, als wäre nichts. Mit diesem Mantra beschreibt die Schriftstellerin Siri Hustvedt in ihrem Essay „Mit Fremden leben“ auch die New Yorker Mentalität. Sie sagt, dass es die Großstadt ist, das permanente Zusammenleben mit Millionen von Menschen, was uns voneinander entfremdet, uns dazu bringt, Nonkonformes aktiv zu übersehen.

Und in Frankfurt, wo ich lebe, entdecke ich es wieder. Tu so, als wäre nichts. Da ist der Hauptbahnhof, an dem kein Ankommen, kein Wegfahren möglich ist, ohne von zwei bis drei Personen nach Kleingeld gefragt zu werden. Da sind jene Treppenstufen zur B-Ebene, die ich meide, weil sie nach Urin stinken, weil sie von Blutspritzern gesprenkelt sind. Da ist der große Eingang zur Kaiserstraße, den ich nur nach einem prüfenden Blick runtersteige, weil mir die „Wohin so schnell?“-Rufe der Alkoholiker Angst machen. Tu so, als wäre nichts.

Tu so, als wäre nichts, wenn in der U4 an der Konstablerwache ein Mann mit verfilztem Bart und einer Plastiktüte in der Hand einsteigt, sich und seine Fahne dir gegenüber platziert, und dir mit glasigen Augen auf die Brüste starrt. Tu so, als hörst du es nicht, wenn zwei Frauen durch die S-Bahn gehen und die Mitfahrenden nach Kleingeld für die Wohnungslosenunterkunft fragen. Tu so, als siehst du nicht die aufgeschürften, dreckigen Sohlen des Barfüßigen an der Bockenheimer Warte, wenn er mit einer Flasche Wein in der Hand über den Bahnsteigt schlurft und mit jemandem, sich selbst oder den Umstehenden schimpft. Tu so, als bemerkst du nichts, wenn du vorbeieilst, an dem jungen Mädchen, das in einem Hauseingang in der Niddastraße kauert, kreidebleich und allein, schwitzend und zuckend, die Spritze vor ihren abgerockten Sneakern. Erinnere dich daran, dass du es eilig hast. Erinnere dich daran, dass du sowieso nichts tun kannst.

„Wie sehr wir auch so tun mögen, als ob wir etwas nicht sehen oder hören […] die meisten von uns sehen, hören und riechen in Wirklichkeit eine Menge“, schreibt Hustvedt. Sie sagt, die Isolation ist notwendig.

Tu so, als spürst du nichts, wenn der Mann in der Leipziger Straße dich anbrüllt, dass er nicht in ein Krankenhaus will, weil die ihn dort festbinden, ihm Pillen geben, ihn quälen und als Versuchskaninchen missbrauchen. Tu so, als siehst du seine roten, rissigen Hände nicht. Tu so, als frierst du nicht auch bei dem Anblick der mit Plastiktüten umwickelten Schuhe des Mannes, der bei Regen, Schnee und Eis auf dem Lüftungsschacht vor der Bibliothek sitzt.

Warum ist die Isolation notwendig?

Befreie dich davon, in dem du der Frau, die in der Münchner Straße auf dem Bordstein kniet, 20 Cent in den Kaffeebecher wirfst. Du kannst so tun, als wäre nichts. Ich will Hustvedt widersprechen. Das ist kein „Leben mit Fremden“. Das ist das Leben mit Bekanntem. In dem sich Unerwünschtes eingerichtet hat, zwangsweise, denn was außer-Gewöhnlich ist oder sein wollte, funktioniert nicht. Die Isolation ist Konformismus. Der Blick gewöhnt sich daran, täglich, gewöhnt sich an den Anblick dessen, was nicht konform ist, und das, was es nicht ist, wird zum Gewohnten. Und tut so, als wäre nichts.

Deine Mara

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