Liebe Lotte,
kennst du den „urban sports club“? Vergangenen Sonntag bin ich in einem Gespräch darüber gestolpert. Im Grunde ist das eine App, mit der man immer und überall Sport machen kann. Je nach „Paket“, dass man sich gönnt, bedeutet „immer“ entweder täglich, viermal oder achtmal im Monat; und „überall“ bedeutet in irgendwas zwischen 1357 bis 4974 Städten in fünf verschiedenen Ländern. „Total praktisch“, fand die Person, die mir davon erzählte. Sie war gerade auf dem Weg zur Massage. Eine Stunde massiert werden von einem voll-automatisierten Massagesessel, ohne Termin, ohne Masseur*in, ohne Interaktion. Check-In im jeweiligen teilnehmenden „Partnerstudio“ läuft nämlich über die App.
Uh, da ist sind mir gleich drei kühle Schauer im Rücken herumgesprungen. Das Bild in meinem Kopf sah ungefähr so aus: Eine Handvoll junger, hipper, verkaterter Menschen sitzen an einem Sonntagnachmittag in einem minimalistisch eingerichteten Raum. Es gibt Spinat-Chia-Smoothies für 4,30 Euro, das WiFi ist gratis. Manche haben einen Mac auf dem Schoß, einige zerquetschen mit ihren Daumen bunte Symbole auf dem Touchscreen ihrer Handys, andere wischen Fotos fremder Menschen nach links und rechts, alle haben Stöpsel in den Ohren.
Dieses Bild hat sich in den folgenden Tagen in meinem Kopf festgebissen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto abstoßender fand ich das Konzept. Erst konnte ich gar nicht genau sagen, weshalb. Es waren nicht die automatischen Massagesessel oder die tindernden und freelancenden Yuppies. Ich kam aus einer bestimmten Gedankenschleife nicht mehr heraus: Dieses Abo ist ein Symptom. Ein winziges Anzeichen für eine schwerwiegende Krankheit, das für sich allein völlig unproblematisch, sogar ziemlich reizvoll anmutet. Klar, wann und wo man will die eigene Fitness bearbeiten, ohne sich binden zu müssen, ohne eine Mitgliedschaftskarte mit sich herumtragen zu müssen – klingt erstmal gut. Mir kommt es bloß irgendwie vor wir ein weiteres Merkmal einsam Taumelnder, die sich von einem Haufen Apps durchs Leben führen lassen wollen und die für den kurzfristigen praktischen Nutzen ziemlich schnell bereit sind, andere Dinge blind aufzugeben.
Wie individualisiert sind wir denn unterwegs, wenn wir es nicht einmal schaffen, uns an ein Fitness-Studio, einen Sportverein, ein Schwimmbad zu binden? Was sagt es über unsere Fähigkeit aus, uns zu verpflichten, festzulegen und Verantwortung zu übernehmen? Wenn schon ein Termin in der Woche am selben Ort zu viel Verbindlichkeit fordert?
Vor zwei Wochen gab die Zeit eine Ausgabe mit dem Titelthema Einsamkeit heraus. Der Autor des Leitartikels verpackt Einsamkeit darin wie eine Epidemie, eine sich stetig ausbreitende Krankheit, unter der zwar vor allem alte Leute, aber auch immer mehr Menschen leiden, die mittendrin sein könnten, im Leben. Die alle entweder der Arbeit mehr Raum geben als sozialen Beziehungen, oder die völlig verlernt haben, sozial zu interagieren, weil sie ständig den Ort wechseln, sich familiäre Bände lösen, weil sie permanent online sind – virtuell niemals mit sich allein, im materiellen Dasein aber permanent.
Meine grau gefärbten Brillengläser zeigen mir eine Welt voller Leute, die keine Vereinbarungen mehr treffen können, Fragen am liebsten unbeantwortet lassen, sich vor nahezu jeder Form von Verantwortung drücken, die über ein Projekt, ein Date, einen Massagebesuch hinausgehen könnte. Ich sehe Selbstausbeutung, Entgrenzung und Vereinsamung im Schafspelz von Spontanität, Flexibilität und Praktikabilität.
Ich sehe ja ein, dass es Phasen im Leben gibt, in denen es wichtig ist, Verantwortung abzulehnen. Ich will mich davon auch nicht freisprechen – oder alle anklagen, die flexibel sein wollen. Aber mal ehrlich: Who the Fuck schafft es, allein in Berlin an 949 verschiedenen Orten Sport und Wellness zu betreiben?
Mit sehr verspäteten sonntäglichen Grüßen,
deine Mara