Liebe Mara!
Schnell lasse ich die Eier mit Ablaufdatum Dezember 2018 in einer Plastiktüte verschwinden, um sie an meiner Oma vorbeizuschmuggeln, die vor den Mülleimern sitzt. Während ich versuche, uns etwas zu essen zu machen und dabei seit Monaten abgelaufene Lebensmittel aus dem Kühlschrank räume, sitzt meine Oma am anderen Ende der Küche in einem Berg aus Geschenkpapierrollen, die sie gerne sortieren möchte. Es ist der 8. März, internationaler Frauen*kampftag und der Geburtstag meiner Oma. Sie behauptet, die Eier könne man noch essen. So wie sie behauptet, sie könne noch alleine leben.
Morgen wird die ganze Familie zum Geburtstag feiern kommen. Wir sind selten alle zusammen. Aber wahrscheinlich ist es der letzte Geburtstag meiner Oma, an dem sie uns noch erkennt. Seit einiger Zeit leben in der Welt meiner Oma ihre Eltern wieder.
„Wo werden eigentlich Amma und Appa morgen schlafen?“
„Amma und Appa sind schon gestorben, Oma.“
„Ach so…“
Eigentlich wollte ich nachmittags in die Stadt zur Demo fahren. Aber während du wahrscheinlich gerade mit den anderen für ein selbstbestimmtes Leben auf die Straße gehst, sitze ich mit meiner Oma im Wartezimmer, um ein CT ihres Kopfes machen zu lassen. Was sie nicht weiß ist, dass die Ergebnisse der Untersuchung später gegen sie verwendet werden. Meine Familie lässt eine 24-Stunden-Pflege für sie beantragen, gegen ihren Willen. Gemeinsam gehen wir das Patient*innenformular durch, ich übersetze Frage für Frage in eine Sprache, die meine Oma versteht. Die ein Kind verstehen würde. Zum Arzt sind wir mit dem Taxi gefahren. Meine Oma hat ein Auto, aber keinen Schlüssel mehr dazu. Schon lange versteckt sie alles von Wert, Schlüssel, Schmuck, Unterlagen…Oft versteckt sie die Sachen so gut, dass sie sie nicht mehr wiederfindet. Sollten wir die Autoschlüssel finden, wird meine Oma davon nichts erfahren.
Zurück Zuhause bauen wir die Tische für den nächsten Tag auf. Wir hatten meiner Oma vorgeschlagen, auswärts zu feiern, in einem Lokal. Aber sie hat sich gewünscht, dass alle nochmal zu ihr ins Haus kommen, wie früher. Während wir Gläser auf den Tischen verteilen, schaut meine Oma aus dem Fenster in den Garten. „Was ist denn das, schau mal, die Hendln da vorne!“ Ich sehe keine Hühner, nur Pflanzen. Die Vorbereitungen werden immer wieder davon unterbrochen, dass meine Oma etwas sucht. Zuletzt suchen wir die Abenddosis des Psychopharmakons, das gegen die Wahnvorstellungen helfen soll, die mit der Demenz einhergehen. Wir finden die Tablette zwischen zwei Schinkenscheiben auf dem Brot meiner Oma.
Meine Oma lebt alleine. Je weniger Kontakt sie mit Menschen hat, desto schlimmer wird ihre Vergesslichkeit, ihre Halluzinationen. Sie sagt, sie kann für sich selber sorgen, aber ihr Kühlschrank spricht Bände. Sie sagt, sie nimmt ihre Medikamente, aber das Schinkenbrot verrät sie. Bald wird jemand meine Oma pflegen, gegen ihren Willen. Was die Krankheit ihr an Autonomie lässt, werden wir ihr nehmen. Liebe Mara, manchmal ist das ganz schön kompliziert mit dem selbstbestimmten Leben. Kennst du das?
Liebst,
Lotte