Liebe Mara,
Mittwoch morgens, ich liege im Bett. Mein Fenster steht auf Kipp und mit der frischen Luft dringen die Geräusche der Straße in mein Zimmer. Lautes Motorendröhnen, warnendes Piepen, klingt nach einem LKW im Rückwärtsgang, dazu eine tiefe, laute Stimme. Ich kann keine Worte ausmachen, höre nur kehlige, abgehackte „ÖÖÖHHH“ – Schreie. Laute, die von ganz tief unten kommen. Solche, die große Männer von sich geben, die große Autos dirigieren. Kennste? Und während ich zu diesen süßen Klängen den Tag begrüße, denke ich mir: Krass, was das für ein Gefühl sein muss, als männlich sozialisierte Person durch die Welt zu laufen.
Natürlich sind da diese großen Unterschiede. Strukturelle Ungleichbehandlung, gender pay gap, die Aufteilung von Carearbeit… Aber was ist mit diesen kleinen Unterschieden, die einem im Alltag vielleicht gar nicht so bewusst sind? Was muss es für ein Gefühl sein, durch die Straße zu laufen, vorbei an dem lauten LKW-Fahrer, an der Gruppe von biertrinkenden Männern vorm Kiosk, an den Bauarbeitern und an den rauchenden Jungs von der Tischtennisplatte – und zugehörig zu sein? Ich weiß, es gibt noch viel mehr identitätsstiftende und unseren Alltag strukturierende Kategorien als Geschlecht. Den LKW-Fahrer, der für Mindestlohn Umzüge fährt, und den Arzt, der jeden Weihnachtsurlaub auf den Malediven verbringt, trennen Welten. Aber eben nicht nur. Kennst du den Dokumentarfilm „Man for a day“? Darin wird die Performance-Künstlerin Diane Torr bei einem ihrer Drag-Workshops begleitet, die sie Jahrzehnte gegeben hat. Einer der Ratschläge, die sie den Teilnehmer*innen gibt, um authentisch das Mann-Sein performen zu können, ist: stell dir vor, alles was du siehst gehört dir. Die Straße, auf der du gehst. Der Raum, in dem du dich bewegst. Der Stuhl, auf dem du sitzt – alles deins. Krass, oder? Ich hab das danach immer mal wieder ausprobiert, und die Sicherheit und Selbstverständlichkeit, die es mir in meinem durch die Welt bewegen für einen Moment gibt, ist toll. Aber es ist kein Gefühl, das ich halten kann, es erfordert ziemlich viel Konzentration und Vorstellungskraft. Als Cis-Mann durch die Straßen laufen, bedeutet hingegen das Potential der Identifikation mit den Männern vorm Kiosk, mit den Arbeitern an den schweren Maschinen, mit den gröhlenden Jungs. Und auch wenn sich ganz sicher nicht alle Cis-Männer für diesen ganzen sogenannten „Männerkram“ interessieren, werden sie zumindest als ihresgleichen durchgehen, unbemerkt, unkommentiert bleiben.
Dass es viel zu wenige weibliche Heldinnen und Identifikationsfiguren in Filmen und Büchern gibt, ist mittlerweile kein Geheimnis mehr. Aber was ist mit den Identifikationsfiguren im Alltag? Was würde es an Sicherheit und Selbstvertrauen bedeuten, wenn Frauen die gleiche Präsenz und die gleichen Rollen einnehmen würden wie Männer? Es macht mir zwar generell wenig Spaß, von kehligen „ÖÖÖHHH“ – Lauten geweckt werden, egal von wem sie stammen. Aber wenn dafür auch nur ein kleines bisschen von diesem „alles deins“ – Gefühl auf Frauen und alle, die sich nicht als Cis-Mann durch die Welt bewegen, abfärbt, würde ich gerne ein Auge zudrücken.
Liebst,
Lotte